Anständiges Mädchen

Lidija Dimkovska

Aus dem Makedonischen von Alexander Sitzmann
Zweisprachige Ausgabe

Scheinbar Unvereinbares findet hier leicht zusammen: Lidija Dimkovskas Gedichte können gleichzeitig drastisch und einfühlsam sein, komisch und ernst. Nichts ist zu unbedeutend oder unpoetisch, um nicht ein bildgewaltiges Assoziationsgewitter zu entfachen: eine Nagelzange, ein Suppenwürfel oder Aloe Vera sind die anspruchslosen Ausgangspunkte von Dimkovskas balladesken Berichten, die, mit Ironie, Wut, Tiefsinn und Komik erzählt, gewichtig und völlig unerwartet enden. Aber auch Feminismus, Selbstmordgedanken, den russischen Nobelpreisträger Joseph Brodsky, Sex oder Zukunftsvisionen behandelt Dimkovska mit derselben virtuosen Fähigkeit, das Lächerliche in etwas Pointiertes und äußerst präzis Erfasstes umzugestalten.

Mögen ihre Texte auf den ersten Blick verrückt und surreal anmuten, dadurch, dass sie mit den elementarsten Erwartungen des Lesers brechen, schärfen sie seinen Blick fürs Aktuelle, Gegenwärtige und Wesentliche. Mit »Anständiges Mädchen« werden Dimkovskas fulminante Gedichte in einer von ihr selbst zusammengestellten, repräsentativen Auswahl erstmals dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt.

Der Gedichtband »Anständiges Mädchen« ist Teil der gemeinsam mit dem literarischen Netzwerk TRADUKI in der Edition Korrespondenzen herausgegebenen Reihe tradukita poezio, junge Poesie aus Südosteuropa.

ALOE VERA

Wir haben das Gesicht des Toten eingeschmiert
mit einer Feuchtigkeitsmaske für trockene Haut,
und seine Nichte kniete sich vor den Sarg
und betete so: Los, Aloe Vera,
mach Onkels Wangen rosig, und du,
Mandelmilch, kitzle ihn um die Lippen herum,
ich weiß, dass ihn das auch aus dem tiefsten Schlaf erwecken wird,
eine Nachbarin warf ein, dass Aloe Vera Wunder bewirke,
ja sehe man es denn nicht an ihrer Haut,
wie die eines Babys, sagte sie, und sie gehe schon auf die Fünfzig zu.
Alle drehten wir uns zu ihr um und vergaßen,
dass die Maske bei einem lebenden Menschen sieben Minuten einwirken soll,
bei einem Toten aber nur drei, das Gebet seiner Nichte endete,
die Maske zerbrach, wir begruben den Taxifahrer
ohne sein Gesicht, doch innerlich erfrischt. Auf dem Rückweg
stellte sich uns eine Frau im Umhang in den Weg,
mit einem Tablett voll roter Äpfel.
Es gibt so viele Wahrheiten wie Äpfel, sagte sie, bitte, bedient euch,
denn ist es nicht so, ihr Frischvermählten, dass das Überleben in dieser Welt
einzig abhängt von den zum ersten Mal Verliebten auf einer Mole
voll nicht wiederverwerteter Romantik? Sie muss verrückt sein,
dachte er sich, aber die Braut begann aus voller Kehle zu rufen:
„Siehst du? Und du lässt hundertmal meine Hand los!“,
und sie ließ sich von der Frisur scheiden, deretwegen sie das ganze Leben
unter einer Trockenhaube verbracht hatte, und das Begräbnis, von dem sie zurückkamen,
roch für sie nach dem Ozonloch. Der Tote steckte die Hand in die Tasche,
und niemals wieder holte er sie in der Welt Einsteins hervor.
War das ein Begräbnis oder eine Hochzeit, Aloe Vera?
Wer traute wen? Wer begrub wen?


Lidija Dimkovska, »Anständiges Mädchen«
Gedichte
Zweisprachige Ausgabe
Aus dem Makedonischen von Alexander Sitzmann
164 Seiten, Broschur, Fadenheftung
€ 16,– inkl. MwSt
ISBN 978-3-902113-73-3
Erschienen im September 2010


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