Fliege

E. A. Richter

Roman eines Augenblicks

Eine winzige Fliege landet an einem späten Sommerabend auf dem Bildschirm des Erzählers. Kein großes Ereignis, doch ein folgenreiches: das Motiv der Fliege aufgreifend, kommt ein Schreibprozess in Gang, ein Zickzackflug zwischen wechselnden Zielen aus Kindheit, Jugend und Gegenwart.
Im Mittelpunkt stehen die schon lange toten Eltern, der in der Schreibgegenwart verstorbene Onkel und auch dessen Tochter, die den Bogen zu den ersten erotischen Erfahrungen, einer »vor Neugier und Scham glühenden Zeit«, herstellt. Die insistierende Beschäftigung mit Mutter und Vater erlaubt Blicke über den Familienhintergrund hinaus in die damaligen Orts- und Zeitverhältnisse und auf die Verletzungen durch Religion, Krieg und dörfliche Enge. Damit wird das fragmentarische Porträt einer zweiten Familie kontrastiert: der vom Erzähler ein Jahrzehnt danach selbst gegründeten, deren Hauptfiguren Schwiegervater und Ehefrau sind.
Aus diesem Erzählgespinst tritt auch immer wieder eine Gegenwartslinie stark hervor. Sie schließt zum städtischen Alltag kurz, zu den abwechslungsreichen Verwicklungen mit zwei Frauen, nicht nur in Form von Gesprächen über Kunst, Natur und Terrorismus.
Vivisektion und Erinnerung durchdringen einander in diesem »Roman eines Augenblicks« in einer unaufgeregten, aber keineswegs distanzierten Sprache und fächern mit jedem Anflugsversuch die Facetten vergangener und gegenwärtiger Liebe neu auf.

Es gab – da war ich jedoch schon am Gymnasium – ein Bad im Elternhaus. Zuerst gab es aber ein neues Haus, einen neuen Trakt, der gleich nebenan errichtet worden war, dort, wo sich vorher der Rosengarten mit dem sogenannten Lusthaus befunden hatte. Dieses kleine fensterlose Bad lag zwischen der Waschküche und dem Zimmer, in dem ich und mein älterer Bruder schliefen.

Fliegen gab es überall, auch im Bad. Ich erinnere mich nicht, wann für mich das Baden darin begonnen hatte. Ich erinnere mich jedoch, dass mich meine Mutter noch mit 12 oder gar 13 in einem alten, sehr rauen Waschtrog in der Waschküche wusch. Dort roch alles nach Rauch und Lauge. Das Besondere war, dass sie das Wasser im Kessel heiß werden ließ, während ich schon nackt im Waschtrog saß, lesend. Sie kam dann und goss auf einmal kaltes Wasser in den Trog, goss dann auch heißes dazu. Noch immer lesend, reagierte ich nicht auf diese heißkalte Dusche. Doch gleich musste ich das Buch zur Seite legen, denn jetzt begann sie, mich mit diesem uralten Waschlappen in ihrer Rechten sehr sorgfältig von oben bis unten abzuschrubben. Sie ließ nichts aus, griff mir auch resolut zwischen die Beine.


E. A. Richter, »Fliege«. Roman eines Augenblicks
Originalausgabe
280 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, mit Schutzumschlag und Lesebändchen
€ 22,– inkl. MwSt
ISBN 978-3-902113-60-3
Erschienen im September 2009


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