Wien
Wien ist ein zentraler Bezugspunkt von Ilse Aichingers Schreiben. In die Topografie dieser Stadt sind ihre Erinnerungen eingeschrieben, die »äußerste Geborgenheit« der Kindheit ebenso wie die »äußerste Bedrängnis« der Kriegszeit, als ihre jüdischen Verwandten deportiert wurden und sie die Stadt als ›Mischling ersten Grades‹ nicht verlassen durfte.
Die in den fünfziger Jahren entstandenen Prosagedichte »Kurzschlüsse«, die hier erstmals vollständig versammelt sind, umkreisen die verminten Stellen dieses Geländes. Sie umspielen sie drohend und verheißend, bis darin, im Hier und Jetzt des Kurzschlusses, weit entfernte Räume, Zeiten und Möglichkeiten aufscheinen. Bis Juden, die das Ghetto nicht verlassen können, vor dem geschlossenen Verladebüro ihr ersehntes Land finden und der Besatzungssoldat auf dem Kanal die Arche Noah vorbeifahren sieht.
Im Essay »Die Sicht der Entfremdung« von 1952 plädiert Ilse Aichinger für eine radikal offene Weltbetrachtung, für die Bereitschaft, sich zu wundern, die Orte erst »zu Orten werden läßt und ihnen ihre Namen neu gibt«, und liefert damit die Poetologie zu den Prosagedichten.
SEEGASSE
Die Arche Noah ist auf dem Kanal vorbeigefahren. Der Neger, der vor dem Stacheldraht den Wagen seines Kommandanten bewachte, hat sie gesehen. Er erkannte sie an der weißen Gans, die obenauf saß und mit den Flügeln schlug, aber er hat nichts gesagt.
Die kleinen Bälle springen noch auf dem flachen Dach, aber die alte Frau, die in dem Bett am Fenster lag, ist nicht mehr da. Wem sollen wir erzählen, daß wir in einem neuen Orden sind? Die Straße, die zum Wasser führt, ist leer.
Am Ufer unten sammeln sich die Bienen und suchen ihre letzte Königin.
Ilse Aichinger, »Kurzschlüsse. Wien«
Originalausgabe
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Simone Fässler
96 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, mit Schutzumschlag und Lesebändchen
€ 18,50 inkl. MwSt
ISBN 978-3-902113-07-8
Erschienen im September 2001