Massenhaft Schnee für die darbenden Schafe

Inger Christensen

Ein Hörspiel
Aus dem Dänischen von Hanns Grössel

Inger Christensen, Dänemarks bedeutendste Dichterin der Gegenwart, erklärte einmal, nach den Gründen für die langen Pausen in ihrem Schaffen gefragt: »Ich bin eine gewöhnliche Sterbliche, bereite Mahlzeiten zu und hacke Holz. Es passiert nur selten, dass ich die Orientierung verliere. Dass ich vergesse, was ich wusste und es deshalb erneut formulieren muss.« Und: »Auf der einen Seite werden wir beherrscht (…) und auf der anderen Seite sind wir die Herrschenden. Es gibt etwas in diesem merkwürdigen Punkt, Beherrschter und Herrschender zugleich zu sein, das herauszufinden ich als lebenswichtig empfinde. Vielleicht schreibe ich deshalb so selten, weil ich ihm nicht auf die Spur komme.«

In ihrem 1971 verfassten Hörspiel »Massenhaft Schnee für die darbenden Schafe« ist dieses Dominanzproblem Ausgangspunkt für ein virtuoses, vielstimmiges Spiel um eine revolutionäre Gruppe, die einen Piratensender betreibt – »irgendwo auf der Erde, warum also nicht hier« – und die ihre Mitteilungen in Form eines Codes sendet. Es ist indes unklar, ob sich der Code überhaupt von jemandem entziffern und seiner Absicht entsprechend gebrauchen lässt. Insofern er aber symptomatisch ist für das Verhältnis zwischen einer alternativen Gruppe und einem etablierten System, lässt er sich vielleicht missbrauchen: dazu nämlich, jene Dinge aufzudecken, die sich ständig zwischen Theorie und Handlung verlieren, oder die versteckten Übergänge aufzuzeigen zwischen den Arten und Weisen, ein Teil der Lösung oder ein Teil des Problems zu sein.

Wer also sind die verirrten Schafe? Wer sind die irregeführten Schafe? »Eines jedenfalls ist sicher: Wenn du lernst, dich als Schaf zu fühlen, dann stehst du auch mit der Verantwortung für die Welt da.«

B: … der Schnee verzehrt uns und geht weiter mit uns durch diese gesteigert
kindliche Zuckerlandschaft, diese grausam ungenießbaren Zuckerberge,
Zuckerhüte, Zuckerseen, zucken vor Sehnsucht, wenn sie mit Lichtge-
schwindigkeit und unfassbar langsam diese ausgehauenen Zuckerstücke
auswechseln, diese riesigen Zuckerkulissen, wo wir mit dem Agieren nie zu
Ende kommen, sondern als kandierte Agenten irgendeines groß-kotzigen
Zuckerfabrikanten nach Erfolg zucken und zäh in die dazu eingerichteten
Erfolgslabyrinthe hineinfließen, der Ideale wegen, der Zuckermaler wegen,
der süßen Gemeinschaft wegen, die entsteht, wenn das Ziel erreicht ist
und die Arbeitsgruppe 13 sich uns in ihrer ganzen Verdammnis offenbart …
D: … als Fleisch von unserem Fleisch …
C: … als Schafe von unserem schafigen Fleisch …
B: … dieses tiefgefrorene Schafsfleisch, das im Schnee schläft …
F: … und wir legen uns zu ihnen und wärmen sie mit unseren vielen Schafs-
körpern, so dass wir einen zusammengepferchten vielköpfigen kleinen
Schafsklumpen bilden, der sein Fell ein bisschen wegzieht und seine vielen
Schafsgesichter entblößt, damit sie sprechen und Rat suchen, Rat geben
können.
Alle: Mäh mäh mäh …
Wie ein tibetanischer Mönchschor


Inger Christensen, »Massenhaft Schnee für die darbenden Schafe«. Ein Hörspiel
Deutsche Erstausgabe
Aus dem Dänischen von Hanns Grössel
40 Seiten, Französische Broschur, Fadenheftung
€ 9,50 inkl. MwSt
ISBN 978-3-902951-14-6
Erschienen im Februar 2003


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