Chronik des Scheiterns
»Du bist jetzt fünfzig. Das ist schon lange nicht mehr die Mitte des Lebens. Das ist abgründig. Deine Mutter im Heim. Dein Vater zu Hause auf dem Sofa.« Knapp und prägnant bringt Armin Senser jenen Moment auf den Punkt, wenn wir eines Tages von Alter, Krankheit und Sterben, von Trennung und Angst nicht mehr absehen können. Wenn wir – aus der Bahn geworfen – feststellen, dass uns die Umgebung und die Menschen, die schon immer da waren, fremd geworden sind.
Armin Senser legt mit »Sensus« die eindrückliche Chronik einer langsamen Rückkehr ins Leben vor. Das Ganze spielt zwischen Berlin, dem Lebensmittelpunkt, und Biel, dem Ort der Kindheit. Sinnlich nahe, aber auch reflektierend sachlich werden Alltag, Erinnerungen und Ereignisse nach möglichen Haltepunkten befragt. Dann wieder wird von Visiten bei den Eltern berichtet, die zwischen zärtlicher Annäherung und Abschied schwanken. Sensers Sprache vereint gebundene Rede souverän mit einem saloppen Umgangston, sie schlägt uns in Bann und hält Distanz.
»Sensus« erzählt aber vor allem auch vom Versuch, dem Leben, den anderen und sich selbst gegenüber gerecht zu werden, und vom fortwährenden Scheitern an diesem Anspruch. Einem Scheitern, das Teil und Angelpunkt des Lebens ist: »Du bist, also versagst du. Das ist menschlich.«
Die Bände »Sensus« (Chronik des Scheiterns, 2016), »Der ich bin« (Chronik des Vergessens, 2018) und »Requiem« (2020) bilden zusammen eine autobiographische Trilogie.
Drei Wochen mit einem Leistenbruch. Auf dem Sofa. Den ganzen Tag.
Abends. Die ganze Nacht. Das ist, was der Arzt nicht erkannte und du
verschwiegen hast. Als wären Schmerzen etwas Peinliches. Sicher sind
sie etwas Peinliches; peinlich, dass man sie hat. Dass sich jemand um
einen kümmern muss. Es ist nicht einfach die Angst. Die Angst vor dem
Ungewohnten; dem Krankenhaus. Drei Wochen mit einem
Leistenbruch auf dem Sofa. Das ist mehr als Angst. Und du? Du bist
noch immer in der Küche. Und legst die Kroketten aufs Blech.Juni. Das von Vorhängen besetzte Fenster ist offen. Monopolyhäuser
auf der anderen Straßenseite. Dazwischen Kräne. Und dahinter der
Jura. Ich habe die Wände mit Fettlöser bespritzt. Will man überleben,
muss man sich anpassen. Sagt Paul Steinberg. Der Auschwitz überlebt
hat. Anpassen; aber vor allem: sollte man eine naive Lebenslust haben.
Keinen Willen. Das sagt Steinberg; der siebzehn war, als er nach
Auschwitz kam. Und der überlebte. Dank irgendwas. Und du? Du
wischst das Fett vom Boden auf. Und öffnest eine Flasche Primitivo.
Armin Senser, »Sensus«. Chronik des Scheiterns
Originalausgabe
112 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, mit Schutzumschlag und Lesebändchen
€ 18,– inkl. MwSt
ISBN 978-3-902951-25-0
Erschienen im August 2016