Subtexte

Am 1. Januar 2005, nach Abschluss ihres Buches »Unglaubwürdige Reisen«, eröffnet Ilse Aichinger noch einmal ein Journal: wechselt die Zeitung, wechselt das Café und schreibt Woche für Woche an einem furiosen, poetisch erzählenden Essay.
Mit der Boulevardpresse und den Büchern des Philosophen E. M. Cioran auf dem Kaffeehaustisch, ist Aichinger der Definition von »Subtext« auf der Spur. Mit größter Genauigkeit und funkenschlagender Komik schreibt sie »vom Ende her und auf das Ende hin« und entfaltet einen zusammenhängenden Zyklus, in dem das Blitzhafte des Denkens und der Erinnerung sich als lang nachrollender Donner entlädt.
Ilse Aichingers Subtexte sind eine Intervention gegen Verharmlosung und primitives Einverständnis. »Positiv denken ist das Gegenteil von Denken.« Es ist ein wildes Buch, an dessen Schluss noch einmal – wie in der berühmten »Spiegelgeschichte« – Ende und Anfang, Geburt und Tod, in eins fallen. Die Anarchie einer 85-jährigen großen Dichterin.

»Gestatten!«, sagte unlängst eine Frau, die hinter mir gestanden war, gab mir einen leichten Stoß, stieg in die Straßenbahn, und die Tür schloss sich. Das war kein Unglück, ich hatte keine Eile. Aber das Wort »gestatten« fiel mir am gleichen Abend wieder ein, und ich bedenke es auch seither immer wieder, wenn ich die Stadt und das Land bedenke, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, in extremen Zeiten und unter zum Teil extremen Umständen. Es fällt mir vor allem dann wieder ein, wenn ich mich meiner Großmutter erinnere, die ich zuletzt in einem offenen Viehwagen sah, als sie über eine der vielen Kanalbrücken Wiens zum Nordwestbahnhof und von dort in ein Vernichtungslager gefahren wurde. Damals sagte niemand »Gestatten!«, aber man kann sich vorstellen, dass es »bei uns«, wie man hier gerne sagt, auch heute wieder möglich wäre, Brutalitäten jeder Art ein solches Wort voranzustellen. Das macht das Land hier unverwechselbar. Aber ich kenne diese Art von Unverwechselbarkeit, sie ist mir nicht fremd. Nicht nur deshalb möchte ich nicht in die Fremde, sondern will in der Fremde bleiben, die mörderisch, aber vertraut ist. In Wien.


Ilse Aichinger, »Subtexte«
Originalausgabe
80 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, mit Schutzumschlag und Lesebändchen
€ 16,– inkl. MwSt
ISBN 978-3-902113-46-7
Erschienen im Oktober 2006


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