Zwischen Nacht und Tag

Wagner, die Hauptfigur in Franz Weinzettls Erzählung »Zwischen Nacht und Tag«, macht sich, halb erinnernd, halb in einem Tagtraum, auf den Weg zu der Stelle, an der vor über zwanzig Jahren sein Vater ums Leben kam. Um den Faden wieder aufzunehmen, wo er gerissen war?

Viel Widersprüchliches ist in der Beziehung zum Vater: Hat sich Wagner nicht geschämt, weil er nur Hilfsarbeiter war, und war Wagner nicht zugleich stolz darauf, dass niemand annähernd so viel gelesen hat wie der Vater? Viele Fragen sind durch seinen frühen Tod offen geblieben, auch die wichtigste, die nach seinen glücklichsten Momenten – kam der Sohn in ihnen vor?

Aus Erinnerungen, Aufzeichnungen und Briefen setzt Wagner das Bild seines Vaters neu zusammen, behutsam und scharfsichtig in der Analyse der Empfindungen. Die Ambivalenz wird nicht getilgt. Auch deshalb, weil er Züge des Vaters an sich selbst entdeckt, Ähnlichkeiten gerade dort, wo ihm der Vater fremd erschien, so als hätte er nach Jahren des Abwehrens doch dessen Platz eingenommen.

Mit einem Blumenstock und einem Öllicht im Rucksack und der Armbanduhr, die seinem Vater gehört hatte, in der Jackentasche machte sich an einem Septembertag früh am Morgen ein Mann von seinem Elternhaus auf den Weg zu der viele Stunden Gehzeit entfernten Stelle, wo sein Vater als Vorarbeiter einer Straßenbaufirma vor mehr als zwei Jahrzehnten in einem Dränagegraben ums Leben gekommen war.
Wagner hatte die Uhr des Vaters erst vor einigen Wochen wieder entdeckt und trug sie seither als Glücksbringer, ein wenig auch als eine Art Kompass (wie um mit dessen Hilfe aus einem Labyrinth zu finden) bei sich und griff vor allem nach ihr, wenn ihn in der Nähe von Menschen, von einem Augenblick zum andern, die Angst überschwemmte, vor Schwäche nicht mehr weiter zu können und zusammenzusacken oder wie die Figur eines Zeichentrickfilms, die plötzlich entdeckte, dass sie längst schon keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, im nächsten Moment in die Tiefe zu stürzen …



Franz Weinzettl, »Zwischen Nacht und Tag«
144 Seiten, Hardcover
€ 17,40 inkl. MwSt
ISBN 978-3-902113-84-9

[Übernahme aus dem Residenz Verlag, mit neuem Schutzumschlag
Ursprünglich erschienen 2000]


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