Raumprosa
Der preisgekrönte Dokumentarfilm Gwendolyn (2017) von Ruth Kaaserer hat uns mit einer außergewöhnlichen Frau bekannt gemacht, die an Abenteuern mehr in sich vereint, als in einem einzigen Leben Platz zu haben scheint. Sie ist dreifache Weltmeisterin im Gewichtheben, eine renommierte Altorientalistin, aber auch eine begnadete Literatin, die mit der ihr eigenen Contenance gesellschaftliche Verhältnisse stoisch, anmutig und präzise zur Sprache bringt.
Aufgewachsen ist Gwendolyn Leick u.a. in Graz, wo ihre Mutter eine geräumige Wohnung im ersten Stock eines gründerzeitlichen Zinshauses mietete. Dieser Bau präsentiert sich nach außen hin stolz und vornehm wie ein Palais, innen aber sind die Etagen zugleich der Spiegel eines sozialen Raumgefüges aus Wohnparteien unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit.
In 22 Kapiteln – vom Kohlenkeller über die Räume, Zimmer und Kammern der eigenen Wohnung bis hinauf zum Dachboden – zeichnet Gwendolyn Leick ein faszinierendes Porträt eines Mietshauses im Graz der 1960er Jahre. Lakonisch knapp, voll schillernder Details erzählt sie vom eigenen Heranwachsen, dem Beobachten der anderen Hausbewohner und auch von den Spannungen, die zwischen ihr und der beharrlich deutschnational gesinnten Mutter sich auftun. Mikrogeschichten, deren Topographie die Anschrift Franckstraße 31 trägt.
Nach einem Rohrbruch, verursacht durch die Weigerung der über uns wohnenden Partei, den von ihr nicht benutzten Raum im Winter zu heizen, war ein vom Installateur aufgestemmtes Loch knapp unter der Decke zu verputzen. Die Mutter fand einen Pensionisten, der bereit war, diese Arbeit im Pfusch auszuführen. Er schob mein Bett zur Seite und bestieg die lange Leiter aus dem Keller mit einem Eimer Mörtel und der Kelle. Bald darauf hörte ich im Vorzimmer einen Lärm und beim Öffnen der Tür sah ich den Mann am Boden liegen, sein Gesicht war blau angelaufen, und er war, wie meine Mutter sofort feststellte, ohne Herzschlag und ohne Atem. Der verstorbene Arbeiter, so hörten wir später von seiner Witwe, sei wiederholt gewarnt worden, ja nicht auf hohe Leitern zu steigen, wegen seines hohen Blutdrucks. Das Loch über meinem Bett blieb noch eine längere Zeit unverputzt und sein Anblick erinnerte an den Arbeiter, der beim Verrichten seines Gewerbes den Tod fand.
Gwendolyn Leick, »Franckstraße 31«. Raumprosa
Originalausgabe
128 Seiten, Flexcover, Fadenheftung
€ 18,– inkl. MwSt
ISBN 978-3-902951-67-0
Erschienen im November 2021